Die SEEBRÜCKE

Die Öffentlichkeit der zivilgesellschaftlichen Bewegung SEEBRÜCKE

… während einer globalen Pandemie

Eine Arbeit von Kim Maje Petersen

Einleitung

Auf der Welt passieren jeden Tag tausende Ungerechtigkeiten, einige werden Teil eines öffentlichen Diskurses, von anderen wird außer den Betroffenen nie jemand etwas erfahren. Besonders seit der Corona-Pandemie sind die Nachrichten davon bestimmt, wie viele Neuinfektionen es gibt, welche Maßnahmen gelten und wie mit der Pandemie gelebt werden soll. Das Spektrum der Schlagzeilen ist, neben Informationen zur Pandemie, stark begrenzt und andere Themen fallen hinten über.

Zu einer demokratischen Gesellschaft gehören zivilgesellschaftliche Akteure, die auf Missstände aufmerksam machen und die Politik anprangern – doch wie lässt sich dies während einer Pandemie umsetzten, in der scheinbar alle politischen Bestrebungen auf die Bewältigung der Pandemie fokussiert sind und der Handlungsspielraum der Bevölkerung stark eingeschränkt ist. Wie verschaffen sich in dieser Zeit zivilgesellschaftliche Akteure eine Stimme, wie wird diese in der Öffentlichkeit artikuliert und welche öffentliche Räume stehen zur Verfügung, wenn das oberste Gebot der Nation im Social Distancing besteht?

Dabei steht es außer Frage, dass die Bewältigung der Corona-Pandemie von höchster Relevanz und ein ernstzunehmendes Thema ist, das nicht ohne guten Grund die Nachrichten bestimmt. Es geht mir nicht darum, diese Relevanz abzusprechen, sondern darum zu fragen, wie in dieser Zeit, in der immer von Solidarität gesprochen wird, tatsächlich Raum für andere Formen der Solidarität geschaffen wird.

Die Seebrücke

Es gibt viele Themen, die gerade Aufmerksamkeit benötigen, eins davon habe ich zum Thema meiner Forschung gemacht: Die zivilgesellschaftliche Bewegung Seebrücke setzt sich gegen die europäische Abschottungspolitik ein und engagiert sich für sichere Fluchtwege, die Entkriminalisierung der Seenotrettung und für die menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten – eine Problematik, die auch während der Corona-Pandemie besteht. Menschen fliehen weiterhin über das Mittelmeer, sie sitzen weiterhin in Lagern an den europäischen Außengrenzen fest und die Verdrängung des Themas aus der Öffentlichkeit beendet nicht das Leiden der Menschen.1 Diese 2018 in Deutschland gegründete und international organisierte Gruppe verfolgt das Ziel, die

„europäische Flüchtlingspolitik dahingehend zu ändern, dass [es] nicht eine Frage der Papiere und unser Herkunft oder sozialen Status ist hier aufgenommen zu werden, sondern dass anhand der Konvention der Menschenrechte die Menschen hier selbstverständliche Aufnahme finden und das ist eben das bundesweite Anliegen der Seebrücken und hier in Hamburg richtet sich das eben an den Senat und an die Hamburger Bürgerschaft.“2

In vielen deutschen Städten gibt es Lokalgruppen, die verschiedene Aktionen der Seebrücke vor Ort organisieren. Die Seebrücken sind sehr breit aufgestellt und vielfach in lokalen Bündnissen, dabei ist eine der bekanntesten Kampagnen der Seebrücke die Forderung an Städte, „Sicherer Hafen“ zu werden. Dies ist eine „Metapher dafür, dass eine Stadt bereit ist, vorbehaltlos Geflüchtete aufzunehmen.“ 3 Laut der Website der Seebrücke haben sich bisher 234 Städte in Deutschland zum Sicheren Hafen erklärt (Stand Februar 2021) – unter anderem gehört Hamburg seit September 2018 dazu.

Vorgehen, Methoden und Forscherinrolle

Um tiefere Einblicke in die Arbeit der Seebrücke zu bekommen, habe ich mich aus verschiedenen Perspektiven ins Feld begeben, wobei mir als Forscherin dieses Feld bereits bekannt war. Aufgrund meines schon zuvor bestehenden Interesse für die Themen der Seebrücke ist meine Sicht von bestehendem Wissen zur Arbeit der Seebrücke geprägt. Jedoch sehe ich dies als eine positive Voraussetzung, durch die ich mit einem guten Überblick in das Feld gehen konnte und guten Zugang zu den Akteuren und Praktiken hatte. Ich habe mit einem Akteur der Hamburger Seebrücke ein qualitatives Interview geführt, sowie durch Teilnehmende Beobachtungen von zwei Aktionen in Hamburg Daten gesammelt, zwei Podcast-Interviews mit Aktivisten der Seebrücke analysiert und Pressemitteilungen der Seebrücke ausgewertet. Durch die Pandemie war es mir nicht möglich, lokale Aktionen der Seebrücke außerhalb von Hamburg zu besuchen. Jedoch ist dies bereits die erste Prämisse meiner Arbeit: die Räume, in denen die Seebrücke aktiv ist, und die Art und Weise, wie diese Räume genutzt werden, ist durch die Corona-Pandemie geprägt und verändert worden. Ich möchte zeigen, was dies für die Öffentlichkeit der Seebrücke bedeutet und welche Formen der Öffentlichkeit aus welchen Gründen bestehen oder eventuell verwehrt bleiben.

Konzepte

Zivilgesellschaft

Die Seebrücke beschreibt sich selbst als „zivilgesellschaftliche Bewegung“. Dies verstehe ich im Folgenden nach Habermas:

„Die Zivilgesellschaft stellt im Sinne von Habermas „Öffentlichkeit“ her und generiert dafür sowohl die Foren als auch die Akteure.“4

Dabei sieht er weiter die zentrale Rolle der Zivilgesellschaft darin, Probleme, die die Gesellschaft betreffen, an die politische Öffentlichkeit weiter zu geben.5 Die Zivilgesellschaft stellt somit eine Voraussetzung der politischen Öffentlichkeit dar und ist gleichzeitig Vermittlerin zwischen dem Privaten/Individuellen und der Öffentlichkeit sowie Akteurin, die Öffentlichkeit produziert.

Öffentlichkeit

Die Voraussetzung für die Herstellung einer Öffentlichkeit, besonders einer politischen, liegt darin, dass eine demokratische Gesellschaft existiert. Natürlich lässt sich auch in autoritären Staaten politische Öffentlichkeit erzeugen, jedoch bestehen dort andere Grundvoraussetzungen, Hürden und Bedingungen für die Zivilgesellschaft, um auf Themen aufmerksam zu machen.

Meiner Betrachtung der Seebrücke liegt ein von dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas geprägtes Verständnis von Öffentlichkeit zu Grunde. Er versteht die Öffentlichkeit als den diskursiven Raum, „in dem Individuen und Gruppen Gegenstände des kollektiven Interesses diskutieren können.“6 Das heißt die Öffentlichkeit bildet ein Netzwerk zur Kommunikation von Meinungen und Debatten und steht zwischen dem Privaten und der staatlichen Autorität. Dabei ist sie von der Arena des Staates und der Ökonomie abgegrenzt, sodass die Öffentlichkeit Raum für Kritik an diesen bildet.7Außerdem schließt dies an die Performativität von Öffentlichkeit an, denn sie wird durch situative Praktiken gebildet. Dies gilt ebenfalls für das Konzept der Gegenöffentlichkeit, welches „kollektive und dabei v.a. öffentlichkeitswirksame Partizipationsprozesse innerhalb alternativer und relativ stabiler Organisationszusammenhänge“ bezeichnet.8

Straßenprotest als Produktionsort von Öffentlichkeit

Straße als Schauplatz politischer Opposition

Auch wenn die Corona-Pandemie den Alltag in Deutschland bestimmt und bundesweit Großveranstaltungen abgesagt wurden, durften im Sommer 2020, meinem Erhebungszeitraum, unter bestimmten Bedingungen Straßenproteste stattfinden.

Dies wandelt sich aber im Verlauf der Pandemie immer wieder. Zu Beginn waren die Behörden sehr restriktiv und in Hamburg wurden beantragte Veranstaltungen der Seebrücke von der Versammlungsbehörde abgesagt oder bereits das Fahrradfahren mit einem Protestplakat wurde von der Polizei als Demonstration gesehen und somit verboten.9 Allerdings wurden mit sinkenden Corona-Infektionen im Sommer 2020 wieder mehr Aktionen auf der Straße möglich. Ich konnte an zwei Aktionen teilnehmen, einer Menschenkette im Juni vom unteilbar-Bündnis, an der die Seebrücke Hamburg beteiligt war, und einer Demonstration von der Seebrücke Hamburg im August.

Am 14. Juni 2020 veranstaltete das unteilbar-Bündnis deutschlandweit Aktionen, bei denen ein „Band der Solidarität“ gebildet wurde, dies sollte symbolisieren, dass „wir viele sind, die zusammenhalten und füreinander einstehen.“10 Durch die Aktionsform einer Menschenkette konnte zwischen den Teilnehmer:innen immer der erforderliche Abstand von 3 Metern gehalten werden und es bestand Maskenpflicht.

Links: 14. Juni 2020 „Band der Solidarität“ // Oben: 15. August 2020 „Gebt die Schiffe frei“
Bildquelle: © Kim Maje Petersen

Der zweite, beobachtete Straßenprotest war eine Demonstration am 15. August 2020, bei der die Freigebung von zivilen Rettungsschiffen gefordert wurde. Dies war nach „stehenden“ Kundgebungen die erste Demonstration der Seebrücke seit Beginn der Pandemie. Nach einer Anfangskundgebung fand ein Demonstrationszug vom Arrivati Park auf St. Pauli zu den Landungsbrücken statt, wo eine Abschlusskundgebung abgehalten wurde. Unter dem Motto „Gebt die Schiffe frei!“ fanden sich verschiedene Organisationen wie zum Beispiel der Flüchtlingsrat Hamburg oder die GRÜNE Jugend Hamburg mit den Teilnehmer:innen in 13 Blöcken à 75 Menschen auf den abgesperrten Straßen zusammen.

Straßenproteste „verkörpern [für gewöhnlich] ‚Massenhaftigkeit‘ und ‚Kollektivität‘“ und dienen der „kollektiven Inszenierung von Einmündigkeit“.11 Beispielsweise bewirkte die Seebrücke Hamburg mit einer Großdemonstration am 2. September 2018 bei der 16.000 Menschen auf die Straße gingen, die Stadt Hamburg dazu, sich zum Sicheren Hafen zu erklären.12

Auch wenn sich Forderungen sowie die Form der beiden von mir beobachteten Straßenproteste unterscheiden, schließen sie beide an die Tradition der Straße als Schauplatz sozialer Konflikte sowie als Forum politischer Interessenvertretungen an.13 Die stark von der Arbeiterbewegung geprägten Straßendemonstration sind zu einem Schauplatz sozialer Konflikte geworden und dienen als Artikulationsort einer Opposition gegen die obrigkeitliche, politische Öffentlichkeit.14 Dies wird auch in den Straßenprotesten der Seebrücke erkennbar, so artikulieren sie deutlich, dass sie nicht mit der Migrationspolitik der Regierungen einverstanden sind und stellen konkrete Forderungen. So in einer Rede bei der Demonstration am 15. August 2020 mit der Aufforderung, dass sich Hamburg dafür einsetzt, dass die festgesetzten Rettungsschiffe mit dem Heimathafen Hamburg freigegeben werden.15

Für gewöhnlich liegt „Die Attraktivität dieser Massenveranstaltungen […] in der Tatsache begründet, daß allein schon die Mobilisierung solcher Massen eine bedeutende Akkumulation gesellschaftlicher Macht darstellt.“16 Dabei ist es nicht verwunderlich, dass je mehr Menschen teilnehmen, der Protest an scheinbarer Legitimität gewinnt.17 Somit scheint Öffentlichkeit, in Form von Straßenprotesten, eine Bedingung für politische Öffentlichkeit zu sein, also sich selbst zu bedingen.

„Wir sehen uns als eine außerparlamentarische Bewegung und […] wir versuchen eben […] den Druck auf der Straße permanent möglichst aufrecht zu erhalten, darüber auch in den Medien Öffentlichkeit zu generieren und damit permanenten Druck auf die parlamentarische Arbeit auszuüben.“18

Auch wenn durch die Corona-Pandemie keine Massenveranstaltungen mit mehreren tausend Menschen möglich sind, bleiben die regelmäßigen, kleineren Kundgebungen und Demonstrationen bedeutend, um ebendiesen Druck auf der Straße zu erhalten und als Bewegung präsent zu bleiben.

Des Weiteren weist die Öffentlichkeit Straße als politischer Aushandlungsraum weitere Spezifik auf, denn die auf der Straße artikulierten Diskurse stellen sich gegen das staatliche Monopol, es wird eine politisch-soziale Gegenmacht entworfen sowie eine gesellschaftliche Alternative suggeriert. Dies verdeutlicht, dass „die Straße als Metapher für sozial fest umrissene Gegenöffentlichkeit und für politisch organisierte Opposition“ steht.19Die Straßendemonstrationen der Seebrücke lassen sich als Praktik der Herstellung von Öffentlichkeit verstehen, die somit dazu beitragen, dass eine herrschaftskritische Zivilgesellschaft durch Partizipation entstehen kann. Straßenproteste sind durch ihren partizipatorischen Charakter „construction sites for publics“.20Die zuvor beschriebenen Straßenproteste, und auch weitere Straßendemonstrationen der Seebrücke, fanden in Bündnissen statt, sodass die Legitimität, als Zivilgesellschaft vernachlässigte Themen oder Politiken anzuprangern, gesteigert wurde. Dadurch bleibt auch während der Pandemie der Ort „Straße“ weiter als Produktionsort von Öffentlichkeit, die wiederum Bedingung von Zivilgesellschaft ist, besetzt.  

Digitale Öffentlichkeit – Die #LeaveNoOneBehind-Kampagne

Durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie nutzt die Seebrücke jedoch auch alternative, kreative Wege, diesen Druck der Straße weiterhin aufrecht zu erhalten und durch die Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein in der Bevölkerung zu erhöhen. „Dann sind wir natürlich auch sehr stark ausgewichen auf die sozialen Medien, die LeaveNoOneBehind-Bewegung zum Beispiel.“21

Mein zweiter Fokus liegt ebenda, auf der LeaveNoOneBehind-Kampagne als Phänomen der medialen Herstellung von Öffentlichkeit. Dabei sind die beiden Perspektiven jedoch nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern stehen eher in einem dynamischen Verhältnis, denn die Kampagne findet sich beispielsweise bei den Demonstrationen wieder.22 Die Seebrücke fordert in ihrer Pressemitteilung zum Kampagnenstart im März 2020, dass die griechischen Flüchtlingslager evakuiert werden und das EU-Türkei-Abkommen beendet wird.23

Ein prominenter Mitinitiator der Kampagne ist der EU-Abgeordnete Erik Marquardt, der zusammen mit der Seebrücke zur Beteiligung aufruft.

„Die Kampagne funktioniert so, dass man Leute zusammenbringt, die sagen, also uns geht es nicht darum diese Krise möglichst egoistisch zu lösen, sondern möglichst in Zusammenhalt und wir wollen eben dafür sorgen, dass man mit Öffentlichkeit politischen Druck erzeugt, damit eben niemand zurückgelassen wird in dieser Krise.“24

Indem Menschen dazu aufgerufen werden sich zu beteiligen, ihnen konkrete Partizipationsvorschläge gemacht werden und sie dann daran teilnehmen, wird zum einen die demokratische Debatte erweitert und zum anderen wird so durch Partizipation Öffentlichkeit performiert.25 Dabei führt „die Digitalisierung sozialer Bewegungen zu einer Ausweitung von Handlungsrepertoires von Bewegungsakteuren“26, sodass sich im „deutschsprachigen Netz eine Vielzahl bottom up, kollaborativ und dezentral entstandener Empörungswellen verbreit[en], in denen Macht- und Herrschaftseliten bzw. diskriminierende Gesellschaftspraktiken kritisch beobachtet und Normverletzungen skandalisiert werden.“27

Diese Erzeugung von Öffentlichkeit gestaltet die Seebrücke bei der #LeaveNoOneBehind-Kampagne in Form von einer Online-Petition, Online-Demonstrationen, einem Telegram-Kanal zur Verbreitung von Informationen und Bildern sowie zugehörigem Instagram– und Twitter-Account und Website. Auf den verschiedenen Plattformen werden Informationen und Bilder geteilt, beispielsweise aus dem griechischem Flüchtlingslager Moria. Es wird auf miserable Lebenszustände aufmerksam gemacht, es werden Geflüchtete vorgestellt oder Forderungen an die Politik gestellt, „damit Aufmerksamkeit auf Themen gelenkt wird [und] dadurch politischer Druck entsteht.“28

Die aktuellen Tweets des #LeaveNoOneBehind Twitter-Accounts

Diese Formierung einer informierten Gegenöffentlichkeit spricht gleichzeitig Menschen an sich zu engagieren. Erik Marquardt stellt dies als Merkmal der Kampagne heraus, dass Menschen nicht nur zugucken und es schlimm finden, sondern, dass die #LeaveNoOneBehind-Kampagne verschiedene Möglichkeiten liefert, sich selbst zu engagieren.29Erst durch die Partizipation individueller Akteur:innen formiert sich aus der Arbeit der Seebrücke (und weiteren Beteiligten der Kampagne) die Zivilgesellschaft und stellt die politische Öffentlichkeit her. Dies geschieht dadurch, dass Einzelpersonen die Kampagne teilen, selbst Bilder mit dem Hashtag dazu posten, Petitionen unterschreiben oder E-Mails an Abgeordnete schreiben. Durch die Partizipation vieler legitimieren sich die Forderungen. Gleichzeitig wird im Zuge dessen ein weiteres Anliegen der Kampagne erreicht: dass für eine gerechte Verteilung der Aufmerksamkeit gesorgt wird, damit in der Krise das Thema nicht untergeht.30

Somit lässt sich sagen, dass die Seebrücke mit der #LeaveNoOneBehind-Kampagne eine Arena schafft, in der sich „neue Informations- und Kommunikationsräume konstruieren […], in denen sich politische Gegenöffentlichkeiten entwickeln können, für die in den klassischen Medien bisher kein Platz war.“31Denn das Internet bietet die Möglichkeit, dass sich jede:r am Diskurs beteiligen kann und damit eine kritische Teilöffentlichkeit die den Positionen der Gegenöffentlichkeit „mithilfe von alternativen Medien und medienvermittelten (Prostest-)Aktionen innerhalb der massenmedialen Öffentlichkeit Gehör verschaffen“.32

Allerdings bleibt es nicht bei der medialen Öffentlichkeit, denn neben dem Aufruf, die Kampagne in Form eines Hashtags zu posten, gehören dazu auch Aktionen, die Menschen aufrufen, Schilder zur Kampagne zu malen und in die Fenster zu hängen oder zum Beispiel mit Kreide an öffentlichen Orten zu schreiben.

„Ich finde [es ist] sehr viel Kreativität entstanden in Corona Zeiten, von der wir auch weiterhin zehren werden denke ich was die Methodik betrifft. Auch der Aufruf in die Fenster Plakate zu hängen und Transpis, das hat auch sehr gut funktioniert.“ 33

Von der medialen Öffentlichkeit ausgehend, besteht ein besonders großes Mobilisierungspotenzial, welches dazu führt, dass in individualisierten und kollaborativen Aktionen eine herrschaftskritische Öffentlichkeit erzeugt wird. 34Das lässt sich gut an dem im Interview genannten Aufruf der #LeaveNoOneBehind-Kampagne erkennen, denn dadurch, dass viele Privatpersonen Plakate und Transparente in und aus ihren Fenstern gehangen haben, werden sie alle Teil der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Dies zeigt außerdem, dass digitale Öffentlichkeiten keine starren Räume sind, die im digitalen Forum bleiben, sondern dass sie Einzug in den analogen Alltag erhalten und, im Falle der Plakat-Aktion, eine Art Straßenprotest darstellen. Auch wenn das Wiederfinden der Kampagne im Stadtbild keinem klassischen Straßenprotest entspricht, bei dem Individuen physisch auf der Straße präsent sind, so steht der Schriftzug LeaveNoOneBehind dennoch für eine ausdrückliche Gegenposition zu der herrschenden, politischen Öffentlichkeit.35

Die Seebrücke genießt eine sehr breite Unterstützung aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft, beispielsweise von Kirchen und vielen Prominenten, die bereits an verschiedenen Stellen eine große Öffentlichkeit ansprechen. Die mediale Öffentlichkeit, die zum einen von der Seebrücke selbst, aber auch durch die Online-Plattformen der Unterstützer:innen generiert wird, sorgt dafür, dass die Seebrücke kontinuierlicher Aufmerksamkeit erzeugen kann.36

„Wir halten zusammen: #LeaveNoOneBehind! Schließt Euch jetzt mit kreativen Protestformen und Aktionen an! Wir werden jetzt laut und unermüdlich sein und die Regierung unter Druck setzen, bis endlich die humanitäre Krise an den europäischen Außengrenzen beendet ist.“ 37

Durch die diversen Online-Partizipationsmöglichkeiten, die von Bürger:innen angenommen werden, wie zum Beispiel Petitionen, Online-Demonstrationen und Informationskanäle, formiert sich eine engagierte Zivilgesellschaft, die einen weiteren Diskurs neben den Corona-Nachrichten einfordert und gleichzeitig selbst die Gegenöffentlichkeit dafür schafft.

Diese Erkenntnisse sind jedoch mit dem kritischen Blick zu sehen, dass sich in sozialen Netzwerken Filterblasen und Echokammern generieren, die vom Algorithmus beeinflusst werden. Somit ist eine digitale Öffentlichkeit immer im Zusammenhang mit den technischen Voraussetzungen zu sehen, welche maßgeblich an der Entstehung einer spezifischen Öffentlichkeit beteiligt sind. Außerdem ist der Zugang zu einer digitalen Öffentlichkeit davon geprägt, welche technischen Fähigkeiten die Menschen mitbringen und dass der Einsatz von digitalen Aktionsformen auch ausschließend wirken kann.  

Fazit

Die Betonung des Zusammenhalts, dass niemand in der Krise zurückgelassen werden darf, ist Teil der demokratischen Verteilung von Aufmerksamkeit. Die Seebrücke als zivilgesellschaftlicher Akteur bietet die Grundlagen zur Partizipation an dieser Demokratisierung und gibt somit individuellen Akteur:innen die Möglichkeit, Teil des politischen Diskurses zu werden.

Die immer weiter voranschreitende Digitalisierung liefert eine essenzielle Grundlage, dass zivilgesellschaftliche Akteure wie die Seebrücke durch das Internet das Spektrum der Aktionsformen diversifizieren und, besonders in der Pandemie, den Druck von der Straße aufrechterhalten konnten. Indem die Seebrücke es geschafft hat, Menschen, die durch die Pandemie einfach nur zu Hause saßen, zu informieren und ihnen Partizipationsmöglichkeiten zu liefern, bei denen sie sich trotzdem engagieren konnten, wurde eine politische Gegenöffentlichkeit hergestellt. Allerdings sollte man sich keine Illusion machen, zwar konnte die Seebrücke auch während der Pandemie weiterhin auf die humanitäre Krise an den EU-Außengrenzen aufmerksam machen, aber welche politischen Konsequenzen daraus folgen bleibt offen. Auch wenn es Zugeständnisse seitens der Politik gab, zum Beispiel Geflüchtete aus dem Camp Moria auf Lesbos aufzunehmen, sind die Lager dennoch weit von einer Evakuierung, wie die LeaveNoOneBehind-Kampagne es fordert, entfernt.

Dennoch zeigt meine Arbeit, dass die Seebrücke eine engagierte Öffentlichkeit aktiviert hat, die mit Hilfe der Ergänzung des Straßenprotestes durch digitale Protestformen kreative Wege gefunden hat, um auf die spezielle Situation der Pandemie zu reagieren und den Druck auf die Politik dadurch nicht zu beenden. Ganz im Gegenteil: Die Partizipationsformen haben sich vervielfältigt und durch verschiedene Aktionsformen (digital und analog) werden unterschiedliche Menschen angesprochen, da es verschiedene Zugänge zum Diskurs gibt.

Auch wenn ich versucht habe, ein breites Spektrum der Aktionsformen und Öffentlichkeitsarbeit der Seebrücke abzubilden, besteht nicht der Anspruch auf Vollständigkeit. So lässt sich die intensive Medienarbeit der Seebrücke als Dimension ihrer Öffentlichkeit und die Wirkung auf klassische Medien weiter erforschen.

Die Seebrücke erzeugt eine von der Zivilgesellschaft getragene Gegenöffentlichkeit, die konstant politischen Druck auf die Regierungen ausübt und durch ihre Aktionen Missstände der herrschenden politischen Öffentlichkeit anprangert.  

Quellen

  1. Vgl. Interview.
  2. Interview
  3. Interview
  4. Keane, John, und Wolfgang Merkel (2015). Zivilgesellschaft. In: Kollmorgen, Raj, Wolfgang Merkel, und Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.), Handbuch Transformationsforschung. S. 443–454. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 449.
  5. Vgl. ebd.
  6. Ekiert, Grzegorz (2015). Zivilgesellschaft als politische Strategie und theoretischer Ansatz. In: Kollmorgen, Raj, Wolfgang Merkel, und Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.), Handbuch Transformationsforschung. S. 195–206. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 198.
  7. Vgl. Fraser, Nancy (1992) Rethinking the Public Sphere. In: Calhoun, Craig J. (Hrsg.), Habermas and the public sphere. Studies in contemporary German social thought. S. 109-142. Cambridge, Mass: MIT Press. S. 110.
  8. Wimmer, Jeffrey (2014). Öffentlichkeit, Gegenöffentlichkeiten und Medienpartizipation im Zeitalter des Internets. In: Schmitt, Caroline, und Asta Vonderau (Hrsg.), Transnationalität und Öffentlichkeit: interdisziplinäre Perspektiven. Kultur und soziale Praxis. S. 285-308. Bielefeld: Transcript. S. 297.
  9. Vgl. Interview.
  10. Website Unteilbar #SoGehtSolidarisch https://www.unteilbar.org/sogehtsolidarisch/ [Zuletzt: 31.03.2021]
  11. Vgl. Kaschuba, Wolfgang (1991). Von der „Rotte“ zum „Block“. In: Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.), Massenmedium Strasse: zur Kulturgeschichte der Demonstration. S. 68-96. Frankfurt ; New York : Paris: Campus ; Editions de la Maison des sciences de l’homme, 1991. S. 93.
  12. Vgl. Interview.
  13. Vgl. Kaschuba 1991, 68.
  14. Vgl. ebd., 70.
  15. Vgl. Audioaufnahme Rede Seebrücke 15.08.2020.
  16. Balistier, Thomas (1991). Straßenproteste in der Bundesrepublik Deutschland. In: Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.), Massenmedium Strasse: zur Kulturgeschichte der Demonstration. S. 257-281. Frankfurt ; New York : Paris: Campus ; Editions de la Maison des sciences de l’homme, 1991. S. 261.
  17. Vgl. ebd.
  18. Interview
  19. Kaschuba 1991, 70 ff.
  20. Felt, Ulrike, und Fochler, Maximilian (2010). Machineries for Making Publics. Inscribing and Describing Publics in Public Engagement. Department of Social Studies of Science, University of Vienna, August 2010. S. 5.
  21. Interview
  22. Vgl. Feldtagebuch
  23. Seebrücke Pressemitteilung: Leave no one behind! – Griechische Lager jetzt evakuieren. 18.03.2020. https://seebruecke.org/press/leave-no-one-behind-griechische-lager-jetzt-evakuieren/ [31.03.2021]
  24. Marquardt, Erik (April 2020). #leavenoonebehind – mit EU-Parlamentarier Erik Marquardt. In: Multivitamin-Podcast von kohero Magazin. https://open.spotify.com/episode/5aUEnm8yf8iMyaqPJVQPad?si=p5LGo6H2T7GT02rxTzWesw
  25. Vgl. Felt/Fochler 2010, 3.
  26. Baringhorst, Sigrid (2019a). Auswirkungen der Digitalisierung auf soziale Bewegungen – Annahmen, Befunde und Desiderata der Forschung. S. 151-169. In: Hofmann, Jeanette, Norbert 1961- Kersting, Claudia Ritzi, und Wolf J. Schünemann (Hrsg.), Politik in der digitalen Gesellschaft zentrale Problemfelder und Forschungsperspektiven. Politik in der digitalen Gesellschaft. transcript. S. 158.
  27. Baringhorst, Sigrid (2019b): Der Nutzer als Wächter – Zivilgesellschaftliche Medienpraktiken eines herrschaftskritischen Going Public im Internet. S. 103-119. In: Bedford-Strohm, Jonas, Florian Höhne, Julian Zeyher-Quattlender (Hrsg.), Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit: interdisziplinäre Perspektiven auf politische Partizipation im Wandel. S. 103.
  28. Marquardt (April 2020).
  29. Vgl. Marquardt, Erik (Dezember 2020). Erik Marquardt – Wie kann ich mich engagieren? In: About You Pangea Podcast. https://open.spotify.com/episode/1Bi4EBsT2papWvttZRm3Ki?si=P2oeE754Tu6mDzhiOaK7vw
  30. Vgl. Marquardt (April 2020).
  31. Wimmer 2014, 297.
  32. Ebd.
  33. Interview
  34. Vgl. Baringhorst 2019b, 109.
  35. Vgl. Kaschuba, 1991, 70.
  36. Vgl. Interview.
  37. Seebrücke Pressemitteilung: Leave no one behind! – Griechische Lager jetzt evakuieren. 18.03.2020. https://seebruecke.org/press/leave-no-one-behind-griechische-lager-jetzt-evakuieren/ [31.03.2021]