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Resozialisierung

Zur Datenlage

(Bildquelle: Privataufnahme der Informantenbriefe)

Liebe Leser:innen,
die folgenden Darstellungen basieren auf den von mir generierten Daten und Deutungen, welche ich anhand einer multimethodischen, ethnografischen Forschung sowie einer Literaturrecherche innerhalb des Feldes der Resozialisierung erhoben habe. Angewandt habe ich dabei teilnehmende Beobachtungen, Feldgespräche über den Postweg sowie schriftliche, offen und leitfadengestütze Interviews und konnte im Rahmen von Gesprächsnotizen im Kontext der ehrenamtlichen Obdachlosenhilfe weitere Erkenntnisse erlangen.

Die größte Erkenntnisquelle bilden dabei die Briefe, welche ich fast ein Jahr lang mit zwei derzeit inhaftierten, männlichen Insassen ansammelte und auswertete. Die Briefe sind dabei als selbstverfasste Auskünfte der beiden Informanten zu verstehen. Sie sind ebenfalls durch eine zeitliche und örtliche Ungebundenheit an mich als Forscherin geprägt – in einem mündlichen Gespräch wären mitunter andere Eindrücke und später Erkenntnisse entstanden. Durch die schriftliche Kommunikation ist mir beispielweise nicht bekannt, wie intuitiv geschrieben wurde oder ob sich unter den Schriften auch überarbeitete Versionen befinden. Auch die Kontrolle des Briefverkehrs seitens des Strafvollzugspersonals kann dafür ausschlaggebend sein, was mir übermittelt und was als Form der Selbstzensur ausgelassen wurde. Meine Rolle als Forscherin habe ich in allen Fällen von Anfang an offen gelegt und gezielt mit dem Forschungsinteresse meine Anschreiben verfasst. Einen der Briefkontakte nahm ich zunächst mit dem Engagement einer brieflichen Beziehungsarbeit auf und strebte durch den Austausch unserer Alltagsgeschehnisse ein möglichst offenes Gespräch und dadurch viele Einblicke an.
Doch durch die Nichtnennung des Delikts und der hohen Haftlänge kam ich schnell in einen persönlichen Konflikt. Denn meiner Vermutung nach handelte es sich hierbei um ein Sexualdelikt, welches mein erstes Ausschlusskriterium in der Informantenauswahl darstellte. So war ich mir meinem persönlichen Schutz und der Unbefangenheit nicht mehr sicher.
Den zweiten Briefverkehr begann ich dann gezielt durch Nachfragen (Leitfaden-Fragebögen sowie freien Schreibaufgaben) zu bestimmten Themenkomplexen. Insgesamt habe ich fünf inhaftierte Personen angeschrieben, von denen sich lediglich die zwei erwähnten Informanten zur Teilnahme an meiner Forschung bereit erklärten. Der Zugang zum Gefängnis und deren Insass:innen ist durch den hohen Sicherheitsanspruch und zu Zeiten der Forschung bestehenden COVID-19 Pandemie erschwert. Doch bilden die Briefe einen möglichen und diesem Fall erkenntnisreichen Feldzugang.

Eine weitere Quelle bildet ein digitales Schriftinterview mit einem bereits Entlassenen, welcher sich durch seine präventive Jugendarbeit als öffentliche Person inszeniert und bereits diverse Interviewerfahrungen mit Dokumentar- und Reportagefilmer:innen von privaten und öffentlich-rechtlichen Auftrageber:innen sammeln konnte. Seine Antworten können dementsprechend als reflektiert und teilweise durch die Arbeit einstudiert angesehen werden.

Die Skizzierung der individuellen Lebenswelten
meiner Informanten weist bereits einige Unterschiede auf, in allen Fällen waren die mir entgegengebrachten Aussagen jedoch durch den Wunsch der Wiedereingliederung geprägt und auch die Bereitschaft an der Forschung teilzunehmen sollte in die Interpretation mit einfließen. Ebenso vereint sie eine hohe Haftstrafe (8, 10 und 19 Jahre), sodass nicht nur eine schwere Tat hinter ihnen liegt, sondern auch eine weite Zeitspanne, in der sowohl die Gefängnisinstitution als auch Resozialisierungsprogramme auf sie einwirkten. So können die Darstellungen als Fragmente der Lebenswelten von inhaftierten Personen verstanden werden. Ebenso wie die Gesellschaft außerhalb der Mauern sind die Personen in Haft als divers zu beschreiben und die Schilderungen entsprechen nicht sämtlichen Menschen in der breitgefächerten Haftalltagswelt. Die Perspektive ergibt sich demnach aus der Sicht straffällig gewordener Personen als „Agens und Patiens“1 gleichermaßen der Resozialisierung, denn aus der individuellen Beschreibung heraus kann die Sozialtechnologie der Normenerhaltung und Maßregelung im Rahmen des Strafvollzugs auf die gesamtgesellschaftliche Makroperspektive eingenommen werden, wie es die induktive2 Forschungsweise der empirischen Kulturwissenschaften vorschlägt. Die Perspektive der Opfer von Straftaten wird in diesem Beitrag deshalb weitestgehend ausgeklammert, was in keinem Fall despektierlich gemeint sein soll. Dies bedeutet im positiven Sinne die Personengruppe der Opfer nicht erneut in der Beschreibung von Täterschaft und Haftstrafe zu objektifizieren sowie eine wiederholte Viktimisierung3 auszuschließen. Vielmehr verlangt es nach einem eigenen Forschungsbeitrag für ihre Perspektive.

*Bei sämtlichen Bildern des Forschungsbeitrags handelt es sich um Privatfotografien, ebenso sind die dargestellten Grafiken privat erstellt. Eine Nutzung und Verbreitung dieser von Dritten ist untersagt. Das Copyright obliegt der Forscherin.

(Bildquelle: Privataufnahme eines Informantenbrief)

  1. In der Linguistik werden die semantischen Rollen Subjekt (Agens) und Objekt (Patiens) als ausführendes und erleidendes Argument aufgeführt
  2. Von einer Einzelfallbeschreibung auf eine allgemeine Perspektive erhebend
  3. Zum Opfer machen