Zivilisierung

Strukturierende Momente des menschlichen Verhalten im öffentlichen Raum

Die Zivilisation kann als Entwicklungsstand einer Gesellschaft verstanden werden, welcher durch wissenschaftliche und technologische Errungenschaften die Lebensformen der Menschen verändert hat. Zivilisiertheit wird dabei zum Beispiel im Gegensatz zu primitiven Gesellschaftsformen gedacht. Die Zivilisierung beschreibt dabei den Prozess des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, sie wird durch die Sozialisation und Enkulturation aller Individuen innerhalb einer Gesellschaft von Kindesbeinen an hergestellt. Wir lernen alle, welche Verhaltensregeln herrschen, wie wir Hilfsmittel und Gegenstände nutzen können, was Gebot und Verbot ist und wie wir miteinander umgehen sollen – wie wir uns zivilisiert verhalten. Zur Beschreibung der Zivilisierung moderner Gesellschaften und dem Verhaltenskodex im öffentlichen Miteinander, wie sie in unseren Forschungen kontextualisiert werden, nutzen wir theoretische Überlegungen von dem Soziologen Erving Goffman mit seinen Schriften zur sozialen Regulierung und Rollenausübung im öffentlichen Raum sowie die Beschreibung der gesellschaftlichen Positionierung anhand verschiedener Kapitalien und dem menschlichen Habitus nach dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu1. Zunächst geht es um die Makroebene der Zivilisierung, es geht um die Positionierung von Individuen in der Gesellschaft von der ausgehend menschliche Handlungen möglich sind. Anhand des ökonomischen (Vermögen, Einkommen, Besitz), kulturellen (Bildungsabschlüsse, Titel, kulturelle Güter) und sozialen Kapitals (Beziehungen, Netzwerke) wird die Stellung und Handlungsmöglichkeiten von Individuen in der Gesellschaft gestaltet, so Bourdieu. Die Kapitalien können sich wechselseitig bedingen und sind im Lebenslauf veränderbar. So entsteht beispielsweise durch eine Verbesserung des kulturellen Kapitals in Form eines hohen Bildungsabschluss eine verbesserte Chance auf ein hohes Einkommen, was das ökonomische Kapital betrifft. Der “Habitus” eines Menschen lässt sich als die Summe der Gewohnheiten, dem Lebensstil und Verwirklichungsmöglichkeiten der Person übersetzen und ist ebenso abhängig von der Kapitalienlage. Wer in einer sozialen Unterschicht oder gesellschaftlichen Minderheit erzogen wird hat andere Voraussetzungen als ein Medizinierkind mit finanzieller Sicherheit und akademisch-geprägten Umfeld. Der Habitus wird dementsprechend auch aus der sozialen Klasse heraus strukturiert, in der ein Mensch aufwächst (soziale Herkunft). Die dortigen Gepflogenheiten oder auch der Sinn für Ästhetik (=Geschmack) werden durch die sozialen Kontakte innerhalb dieser Klasse mitgestaltet und werden zu den persönlichen Gewohnheiten, sie sind Teil der Habituierung. Wer nun einen sozialen Aufstieg erlangt, zum Beispiel aus einer Arbeiterfamilie kommend, einen akademischen Abschluss erlangt, kann mitunter in einen gewissen Legitimierungsdruck geraten, dazu zählen beispielsweise Gefühle, des nicht Hineinpassens oder auch das Gefühl gar nicht erst in die neue Positionierung zu gehören – es passe nicht zu dem Gewohnten/ Erwartbaren, es sei nicht vorbestimmt. Nun Blicken wir noch etwas tiefer in die Mechanismen und Regeln der Zivilisierung von Menschen, es geht in die Mikroebene und zu den Theorien Goffmans;   

Menschen bewegen sich in öffentlichen Räumen, dabei treffen sie auf andere Personen und stehen somit in Interaktion mit- und zueinander. Die Interaktionen finden zum Teil bewusst, aber auch unbewusst statt. Das Verhalten der Individuen orientiert sich dabei stets an dem Umfeld und persönlichen Beziehungen. Bei einem Abendessen mit Freund*innen oder Bekannten verhält sich eine Person zum Beispiel offener und entspannter, als bei einem Geschäftsessen mit den Vorgesetzten an einem öffentlichen Ort wie einem Restaurant, an welchen sich weitere Menschen befinden die Teil des Sozialraums werden. Einen besonderen Einfluss auf die interagierenden Individuen beschreibt der Soziologe Erving Goffman2 anhand zweier Elemente; Die situierten sowie die situativen Strukturelemente. Die situierten Strukturelemente bestehen auch außerhalb von Interaktionen. Sie bilden die äußere und umfassende Kategorie, in der soziale Interaktionen stattfinden und wirken strukturierend auf diese ein. Dazu gehören beispielsweise der soziale Anlass, die Veranstaltung oder auch Räumlichkeit und Zeit. Soziale Anlässe sind an soziale Normen geknüpft, die in der Regel den Akteur*innen (in den sozialen Situationen) bekannt sind. Goffman beschreibt diese als „unsichtbare Verhaltensregeln“, die über soziale Sanktionen erhalten werden – durch Bestrafungen von Fehlverhalten oder Belohnung des angemessen Verhaltens. So können durch formelle Sanktionen Regeln aufrechterhalten und durch informelle Sanktionen soziale Zwänge formiert werden. Das Individuum versteht, dass bestimmte Dinge als angebracht oder unangebracht gelten und erwartet das gleiche von dem Gegenüber. Das Verhalten, die Mimik und Gestik sollen an die sozialen Normierungen angepasst werden und gegebenenfalls wird auch die äußere Erscheinung miteinbezogen. Damit bildet sich gewissermaßen auch der Rahmen für soziale Rollen, die in Situationen zum Ausdruck kommen und es entstehen Rollenerwartungen, wie im Fall eines seriösen Geschäftsessens, keine legere Kleidung und höfliche, nicht zu persönliche Sprache. Soziale Situationen sind außerdem an zeitliche und räumliche Komponente gebunden, da sie entstehen, wenn eine gegenseitige Beobachtung der Akteur*innen erfolgt und vergehen, sobald die vorletzte Person den Interaktionsraum verlässt. Goffman spricht in dem Kontext auch von „Schlusklammern“, die Anfang und Ende markieren wie zum Beispiel eine Begrüßungs- oder Abschiedszeremonie. Die Akteur*innen haben also eine gewisse Vorstellung davon, welche Pflichten und Aufgaben ihnen gestellt werden und sind an bestimmte Handlungsmuster gebunden. Goffman geht dabei jedoch davon aus, dass diese Rolle stets in Distanz zur einen Rolle „gespielt“ wird und nennt dieses Phänomen „Rollendistanz“. Die Rolle die von einer Person in einem Arbeitskontext gespielt wird, kann bewusst angewendet werden und von der persönlichen Rolle, zum Beispiel im Familienkontext, abweichen. Die räumliche Komponente ist etwas komplexer, da sie nicht immer einen klar definierten, abgegrenzten Raum besitzt. Die räumliche Größe kann jedoch Einfluss auf Machtfaktoren haben, da zum Beispiel in größeren Räumen die „Gefahr“ besteht von Anwesenden beobachtet zu werden, die man selbst jedoch nicht sieht. Anders als die situierten Strukturelemente sind die Situativen von den Interaktionen abhängig und können ohne diese nicht existieren. Die situativen Strukturelemente nehmen von „Innen“ Einfluss. Beginnend mit der gegenseitigen Wahrnehmung, also der Erkenntnis, dass man jemanden wahrnimmt und die andere Person es auch tut, findet die erste gemeinsame Interaktion statt.

„Jeder Mensch kann sehen, dass er in einer bestimmten Weise erfahren wird, und er wird zumindest einige seiner Verhaltensweisen an der wahrgenommenen Identität und der ursprünglichen Reaktion derer, die ihn beobachten, ausrichten. Außerdem kann man ihm ansehen, dass er dies sieht, wie er auch sehen kann, dass er beim Sehen gesehen wurde.“ 

Daraufhin wird das Verhalten an die Öffentlichkeit angepasst. Zu dem Interaktionsmodell3 gehört auch das „Image“ einer Person. Dieses beschreibt ein konstruiertes Selbstbild. Images bergen Strategien und Verhaltensmuster, welche ebenso gesellschaftlich und kulturell (z.B. gesellschaftliche Idealbilder) geprägt sind. 

Das Ziel von Imagepflege oder auch „impression management“ ist, ein positives, vorteilhaftes Image in sozialen Begegnungen aufzubauen. In Interaktionen kann also das Image bestätigt oder gefährdet werden. Die Techniken der Imagepflege sind dabei, all die Handlungen, die ein Individuen vornimmt, um Übereinstimmung mit dem eigenen Image zu erhalten. Zwei zentrale Aspekte in Vermeidungsprozessen sind dabei die „defensive Orientierung“ (Schutz des eigenen Images) und „protektive Orientierung“ (Wahrung des Images der anderen). 

Goffman beschreibt des Weiteren einen Prozess der Stigmatisierung, welcher das “Stigma”4 zum Ergebnis hat. Stigmas wirken von außen auf Individuen und sind Merkmale die als defizitär und negativ bewertet werden. Diese können zu sozialer Diskriminierung oder gesellschaftlichen Ausgrenzung führen(Stigmatisierung), denn sie überschatten andere Eigenschaften der Person. Goffman unterteilt Stigma in drei Typen, die Körperliche Deformitäten, die Persönlichkeitseigentschaften, dazu zählen auch Drogenkonsum, Homosexualität, psychische Störungen und Inhaftierungen und letztlich die Ethnie und Religion oder Gruppenzugehörigkeit.

  1. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982.
  2. Goffman, Erving: Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Bertelsmann-Fachverlag, Gütersloh 1971.
  3. Goffman, Erving: Interaction Ritual, Pantheon, New York 1982.
  4. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1957.